Jahrzehnt des historischen Widerspruchs
Die siebziger Jahre
Prof. Dr. Anselm Doering-Manteuffel, Julia Eichenberg
Was war das eigentlich für eine Zeit? Woran denken die Menschen, wenn heute von "den Siebzigern" die Rede ist? Denken sie an die Ölkrise 1973 oder an die Fußballweltmeisterschaft 1974? Denken sie an den "deutschen Herbst" und den Terrorismus der RAF, der 2007 von den Medien in Erinnerung gerufen wird? Denken die Menschen überhaupt an Ereignisse oder eher an eine Zeitstimmung? Und welche Vorstellung machen sie sich von dem Jahrzehnt, wenn sie es selbst gar nicht mehr erlebt haben?
Wir nehmen diese Fragen auf und bündeln sie in kurzen Beiträgen zu einer Erzählung über Geschehnisse und Zusammenhänge, die eine Anschauung von "Profilen der 70er Jahre" geben. Dieses Portal ist aus einem zweisemestrigen Seminar hervorgegangen und beansprucht keine enzyklopädische Vollständigkeit. Vielmehr stellen wir verschiedene Bereiche aus Politik, Wirtschaft, Alltag und Kultur heraus, an denen wir die Besonderheit der Zeit demonstrieren wollen.
Ziel war es, sich mit Studenten im Hauptstudium einem Jahrzehnt anzunähern, das geschichtswissenschaftlich bisher erst bruchstückhaft erschlossen ist. Gegenwärtig werden die 1970er Jahre allerdings zum Gegenstand des Forschungsinteresses. Einblick in die Geschichte dieses Jahrzehnts zu nehmen, hieß deshalb auch, mit den Studenten die Eigenart der Geschichtswissenschaft und ihrer Forschungspraxis zu thematisieren.
Den Studenten verlangte das Vorhaben viel Arbeit ab: Ihre Geburtsjahrgänge liegen in den meisten Fällen erst in den 1980er Jahren, so dass sie über keine persönliche Einschätzung der Zeit verfügen. Der Mangel an Sekundärliteratur zwang die Teilnehmer zu einer intensiven Quellenarbeit und aufmerksamen Suche nach veröffentlichtem Material, dessen wissenschaftliche Qualität über reine Populärliteratur oder Deutungsversuche von Zeitgenossen hinausging. Um so mehr Anerkennung haben unsere AutorInnen verdient, die sich auf die Herausforderung einließen, bereits als Studierende einen Beitrag zu einem neuen Themenfeld der Zeitgeschichtsforschung vorzubereiten.
Wir betrachten die 1970er Jahre als ein Jahrzehnt von markanter Widersprüchlichkeit und eine Phase der Zeitgeschichte, in der wichtige Probleme unserer Gegenwart grundgelegt worden sind. Deshalb ist die Beschäftigung mit den siebziger Jahren heute ganz aktuell.
Jahrzehnt des Widerspruchs
Wieso waren die 1970er Jahre ein Jahrzehnt des markanten historischen Widerspruchs? Wir sehen einerseits den Wohlstand steigen, die Konsummöglichkeiten wachsen und den Tourismus expandieren und beobachten einen entschlossenen Ausbau des Sozialstaats. Andererseits werden wir Zeugen des Niedergangs der Traditionsindustrien an Rhein und Ruhr, im belgisch-nordfranzösischen Industriegebiet, in Lothringen und Mittelengland. Zechen und Hüttenwerke, Werften, aber auch die Fabriken der Textilindustrie geraten in Absatz- und Produktionskrisen, müssen Leute entlassen, von Jahr zu Jahr mehr, und viele dieser Fabriken werden über kurz oder lang vollständig schließen. Wir sehen die Arbeitskräfte, die hier entlassen werden, und bemerken, dass nur die wenigsten eine neue Beschäftigung finden. In den 1970er Jahren breitete sich die Dauerarbeitslosigkeit aus. Die Industriegesellschaft der Wiederaufbauzeit veränderte sich tiefgreifend, denn im industriellen System Westeuropas hatte ein einschneidender Strukturwandel eingesetzt. Die alte Welt der mechanisch-manuellen Industrieproduktion ging langsam unter und die neue der mikroelektronisch gesteuerten Industrien begann sich zu entfalten. Damit verschwand die Welt der Industriearbeiter. Lebensumfeld und Alltagskultur in den europäischen Industriezentren veränderten sich, bis das alte Ruhrgebiet, wie es um 1970 bestand, nur noch im Ruhrlandmuseum zu besichtigen war, aber nicht mehr in den Städten und Werkshallen des ehedem so genannten "Ruhrpotts". Der Strukturwandel und die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt begannen in den 1970er Jahren fühlbar zu werden. Die Menschen wurden ärmer und die Gesellschaft gleichzeitig reicher. Sie durchlebten weniger eine Wirtschafts- als vielmehr eine Strukturkrise.