Jahrzehnt des historischen Widerspruchs
Das Attentat von München 1972 und die Entwicklung des transnationalen Terrorismus
Mira Xenia Rossipaul
Ihren Kampf in Deutschland nannte die RAF auch einen Einsatz für die "Dritte Welt". Sie empfand sich als Teil einer internationalen Befreiungsbewegung und war der militanten palästinensischen Unabhängigkeitsbewegung gegenüber solidarisch. Das RAF-Gründungsmitglied Horst Mahler erklärte: "Wir fühlten uns nicht mehr als Deutsche, sondern als fünfte Kolonne der Dritten Welt in den städtischen Metropolen." (W. Winkler, Die Geschichte der RAF, Berlin 2007, S. 218.) Abgesehen davon, dass Palästina der RAF und anderen linksextremen Gruppen die moralische Legitimation lieferte, wurde die RAF aus dem Nahen Osten auch logistisch unterstützt: Sie bezog Waffen und erhielt militärische Ausbildung in palästinensischen Camps. Zudem stellten die Lager der PLO und ihrer Untergruppen einen sicheren Rückzugsraum für sie dar. Schließlich entstanden Terror-Aktionen in deutsch-palästinensischer Kooperation. In Deutschland klagte die RAF noch immer den unterlassenen Widerstand gegen den Judenmord im Dritten Reich an, doch in der "Dritten Welt" waren sie konform mit den Vernichtungsphantasien palästinensischer Gruppierungen gegenüber Israel.
In den Blickpunkt der Öffentlichkeit traten die revolutionären palästinensischen Bewegungen erstmals zu Beginn der 1970er Jahre. Die PLO hatte zehn Jahre zuvor Basisstationen in Jordanien errichtet und agierte seitdem ziemlich unbehelligt im jordanischen Königreich. Doch der palästinensische Widerstand richtete sich nicht nur gegen Israel, sondern auch gegen die arabischen Staaten selbst. Dies bekam zuerst Jordanien zu spüren. Im September 1970 kam es zu Auseinandersetzungen zwischen König Hussein von Jordanien und der PLO. Die Palästinenser hatten die jordanische Regierung provoziert, indem die PFLP (Volksfront zur Befreiung Palästinas, eine Unterorganisation der PLO) nahezu parallel drei Flugzeuge entführt und diese auf dem stillgelegten Flughafen Dawson's Field nahe Zarqa (nordöstlich von Amman) zur Landung gezwungen hatte. 400 Geiseln sollten gegen palästinensische Gefangene ausgetauscht werden. Nur vier Tage vor der Entführung der Flugzeuge hatte die PLO zudem ein Attentat auf König Hussein verübt, welches jedoch fehlschlug. Deshalb entschloss sich die jordanische Regierung nach dieser dreiwöchigen Krise, die PLO gewaltsam aus Jordanien zu vertreiben. Bei dem Blutbad, das am 17. 9. 1970 begann, zwei Wochen andauerte und als "Schwarzer September" bekannt wurde, starben mehr als 4000 Palästinenser. Nachdem die ihnen zu Hilfe eilenden syrischen Truppen von der jordanischen Armee zurückgeschlagen wurden, flüchtete die PLO in den Libanon.
Doch der Terror sollte aus dem Nahen Osten in die ganze Welt getragen werden. Die Palästinenser wollten ihren Kampf um Unabhängigkeit einem globalen Publikum bekannt machen. Dazu wählten sie die Kommunikationsstrategie des Terrorismus.
Ein Ereignis, dass der gesamten Welt diese neue globalisierte Form des Terrorismus vor Augen führen sollte, war die Geiselnahme und Ermordung der israelischen Mannschaft während der 20. Olympischen Sommerspiele in München 1972. Hierfür verantwortlich war die palästinensische Gruppe "Schwarzer September", die sich nach den mörderischen Ereignissen im September 1970 in Jordanien benannt hatte. Die Olympischen Spiele sollten "Spiele des Friedens und der Freude" werden. Sie sollten die deutsche Olympiade von 1936 zur Zeit des Dritten Reiches vergessen machen. Westdeutschland wollte sich der Welt als verwandeltes, freies und modernes Land präsentieren. Zehn Tage lang konnte sich die Bundesrepublik Deutschland von ihrer besten Seite zeigen. Mehr als 10.000 Athleten kamen nach München und viele Millionen Menschen verfolgten die Olympiade im Fernsehen. Die 20. Olympischen Spiele waren eines der ersten Großereignisse, das global und vor allem live gesendet wurde. Diese Medienkonzentration sollte sich bald der Geiselnahme der israelischen Mannschrift zuwenden und damit dem "Schwarzen September" die Möglichkeit geben, die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf die Situation der Palästinenser zu lenken. Die gefangenen israelischen Athleten sollten gegen 231 inhaftierte Palästinenser und zwei deutsche RAF-Mitglieder ausgetauscht werden. Nachdem Avery Brundage, der amerikanische Vorsitzende des Olympischen Komitees, eine Unterbrechung der Spiele verweigert hatte, schalteten die Fernsehberichte zwischen den sportlichen Wettkämpfen und der Geiselnahme in der Connollystraße hin und her. Peter Jennings, ein Reporter für den Mittleren Osten, berichtete für das amerikanische Fernsehen live aus München. Er berichtete aus dem Gebäude gegenüber dem israelischen Hauptquartier. Fast in jedem Land wurden seine Kommentare gezeigt. Die Ereignisse wurden beständig aktuell übertragen. Nach misslungenen Verhandlungen zeigten die letzten Bilder die Ermordung aller Geiseln.